Berliner Wirtschaft 1/2021

31 IHK BERLIN  |  BERLINER WIRTSCHAFT 01 | 2021 BRANCHEN | Unternehmensporträt W ie an einer unsichtbaren Schnur befes- tigt, dreht sich das Modell einer Tur- bine mitten auf dem Alexanderplatz. Die umstehenden Konstrukteure und Ingenieurinnen diskutieren einen technischen Defekt des Geräts und beratschlagen, wie er am besten behoben und in künftigen Produktserien von vornherein vermieden werden kann. Die Szene wirkt vertraut – und doch leicht surreal. Denn weder der Ort oder die Anwesenden noch die Turbine sind echt. Es sind virtuelle Abbilder der Realität, sichtbar gemacht mithilfe ausgefeil- ter Soft- und Hardware. Virtual Reality – das kannte man bisher vor allem aus Computerspielen und Kunstwelten wie „Second Life“, in denen sich Avatare befreit von Zwängen der Schwerkraft durch Raum und Zeit bewegen. Seit Kurzem kommt VR aber auch in produzierenden Branchen zum Ein- satz, etwa im Maschinen- und Anla- genbau und der Bauindustrie. Fehlerquoten werden reduziert Zu den Pionieren des jungen Markt- segments zählt das Berliner Unter- nehmenWeAre. Die 2017 von Marvin Tekautschitz und Maximilian Noelle gegründete Firma hat ein VR-Kon- ferenzsystem entwickelt, mit dem Unternehmen ihre Kommunikations- prozesse im Engineering verschlanken, Fehler- quoten reduzieren und die Produktentwicklung beschleunigen können. „Eine Zeit lang hieß es, VR wäre allenfalls ein Consumer-Trend“, sagt Tekautschitz. „Dabei hilft die Technik gerade in Branchen, in denen Projekte und Prozesse abstimmungsintensiv sind, etwa bei der Pla- nung und Visualisierung – kollaborativ und über Ländergrenzen und Sprachbarrieren hinweg.“ Während der Corona-Pandemie habe sich das bereits deutlich gezeigt: „Unsere Kunden konn- ten normal weiterarbeiten und wurden nicht durch Reisebeschränkungen oder Abstandsre- geln beeinträchtigt.“ Die VR-Umgebung von WeAre heißt Rooms, und in ihr werden CAD- und Konstruktions- zeichnungen per Mausklick in dreidimensionale Objekte umgewandelt, die frei gedreht, montiert und demontiert, begangen und von mehreren Personen gemeinsam bearbeitet werden kön- nen. Um an einer solchen Session teilzunehmen, müssen die Beteiligten nicht einmal das Büro ver- lassen: Mittels VR-Brille und Cloud-Anbindung treffen sich alle in einem virtuellen Raum. Das kann eine Fabrikhalle sein, ein Konstruktions- büro oder eben der Alexanderplatz. „Wo das Mee- ting stattfindet, ist allein abhängig vom Bildma- terial, das in Rooms vorliegt“, sagt Tekautschitz. „Wir können den virtuellen Meeting Room am Amazonas, in der Antarktis oder auf dem Mond eröffnen – ganz nach Belieben. Die Funktiona- lität ändert sich nicht.“ Derlei exotische Settings würden freilich selten verlangt. Bis zu 70 Prozent Zeitersparnis Dem Anlagen- und Maschinenbauer SMS Group etwa, einem der ersten Kunden von WeAre, geht es vor allem um Praktikabilität und Effizienz; die visuelle Gestaltung des Konferenzraums spielt dabei keine Rolle: „Durch den Einsatz von Rooms konnten wir die Fehlerkosten um rund 20 Prozent senken“, sagt Jan Buch- ner, Projektplaner bei SMS. Zudem werde die Kommunikation mit den Stakeholdern vereinfacht, woraus bis zu 70 Prozent Zeitersparnis resultier- ten. Weil außerdem weniger Dienst- reisen nötig seien, „verkürzen sich die Projektlaufzeiten signifikant“. Im Vergleich sind die Investiti- onskosten für Rooms eher gering. Wer zum Beispiel bis zu fünf Beschäftigte an unterschiedlichen Standorten miteinander verbinden will, erhält ein Lizenzpaket bereits für 330 Euro pro Monat. Hinzu kommen die Kosten für die Hardware, also für VR-Brillen und Computer, an denen sich Rooms-Besucher ins System einloggen. „Die meisten unserer Kunden aus dem Maschi- nenbau- und Konstruktionssektor setzen Work- stations mit genügend Rechenleistung an den Arbeitsplätzen ein, sodass sie nicht extra auf- rüsten müssen“, sagt Tekautschitz. „Herkömm- liche Büro-PCs reichen allerdings nicht.“ Doch sogar ohne VR-Equipment sei es möglich, an einer Rooms-Session teilzunehmen, so der WeA- re-Gründer. „Die Interaktionsmöglichkeiten sind dann aber stark eingeschränkt.“ Wer mehr Aufwand betreiben will, verbindet Roomsmit der hauseigenen Konstruktions- bezie- hungsweise Planungs-Software. „Wir können an die Schnittstellen der meisten üblichen CAD-Sys- teme andocken“, so Tekautschitz. Bis die VR-Um- gebung steht, müsse man ungefähr vier Wochen Zeit einplanen. Die Stand-alone-Lösung sei hin- gegen binnen eines Tages einsatzbereit. ■ FOTOS: WEARE (2), BLITZGARTEN.COM/MATHEUS FERNANDES Marvin Tekautschitz Mitgründer und COO WeAre GmbH Die Techik hilft gerade in Branchen, die abstimmungs- aktiv sind. Links: VR-Tech- nologie erzeugt dreidimensionale Umgebungen, in denen Menschen virtuell arbeiten können Oben: Der Blick in die VR-Brille zeigt Einzelteile, aus denen mit Hilfe der Sioftware neue Konstruktionen entstehen können Vanessa Grühser, IHK-Expertin für Digitalwirtschaft Tel.: 030 / 315 10-459 vanessa.gruehser@ berlin.ihk.de

RkJQdWJsaXNoZXIy MzI1ODA1