Berliner Wirtschaft 1/2020

Konflikte. Viele Menschen wol- len deshalb, dass einfach alles so bleibt, wie es ist. Wir sind Gewohnheitstiere. Unser persön- liches Sicherheitsempfinden und Wohlbefinden hat viel mit Ritu- alen und mit Regelmäßigkeit zu tun. Aber es ist nun einmal so, dass wir den Klimawandel, den demografischen Wandel und die Urbanisierung haben – auch in Berlin. In einer solchen Lage ent- steht schnell ein Vakuum, das nur die Politik füllen kann. Was kann Politik tun? Sie muss sich informieren, Ent- scheidungen treffen und alle Bür- ger mitnehmen, indem sie trans- parent zwischen allen Interessen moderiert. Wir alle müssen uns weiterentwickeln. Evolutionsbio- logisch betrachtet, leben wir alle mit Gehirnen, die darauf gepolt sind, unmittelbare Gefahren zu erkennen. Kollaborative, gemein- schaftliche Strategien gegen lang- fristige Gefahren für die Mensch- heit, die auf jahrzehntelange Pla- nungshorizonte ausgerichtet sind, kennt die menschliche Zivilisa- tion noch nicht. Wir fangen jetzt erst an, diese Fähigkeiten aufzu- bauen – zum Beispiel mit Visionen. In Berlin wollen die Menschen vor allem wissen, wohin sie die Entwicklung der „wachsenden Stadt“ bringt. Welche Story haben Sie dafür? Das Flächenproblem wird in Berlin tatsächlich das große Thema sein. Wir kommen in eine Phase der großen raumpolitischen Debatten. Alle Sektoren und alle Branchen konkurrieren zunehmend um den knappen Raum in der Stadt. Das ist eine sehr komplexe Lage. Die Politik muss hier moderieren und am Ende Entscheidungen treffen – aber auch Ängste nehmen. Ein Beispiel: Viele Einzelhändler haben Angst vor Umsatzeinbußen, wenn vor dem Geschäft keine Autos fahren. Aber das stimmt nicht. Wirklich nicht? Wir wissen aus Kopenhagen und Stockholm, wo der Autoverkehr sukzessive aus den Städten verbannt wird und der Fahrradverkehr dafür stark zunimmt, dass der Einzelhandel sogar erfolgreicher wurde. Ein anderes Beispiel ist die Elektromobilität. Wir wis- sen, dass die Akzeptanz von E-Autos um 60 Pro- zent steigt, wenn Menschen in direkten Kontakt mit ihnen kommen. Sie sehen dann, wie toll diese Fahr- zeuge sind, spüren die Kompaktheit. Gut geschrie- bene Szenarien bauen Risikoaversionen ab und schaffen Bereitschaft zum Ausprobieren. Sagen Sie uns als Zukunftsforscher doch mal, wie die Zukunft Berlins aussieht. Das kann Zukunftsforschung nicht. Ich spreche sowieso lieber von Zukunftsanalytik, für die wir heute sehr gute methodische Möglichkeiten haben, zum Beispiel indem wir mit großen Datenmen- gen arbeiten. Aber wir können nicht sagen, welche Zukunft kommt. Wir können nur sagen, in wel- che Zukunft uns bestimmte Entscheidungen füh- ren können. Am schönsten hat der amerikanische Visionär Richard Buckminster Fuller das erklärt: Die 10 Milliarden Menschen werden bis 2050 auf der Erde leben und in den Städten für eine weitere drastische Verdichtung sorgen. Stephan Rammler Wissenschaftlicher Direktor des IZT ist außerdem Professor für Transportation Design & Social Scien- ces an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Seit dem 1. Oktober 2018 ist er wissenschaftlicher Direktor des IZT–Insti- tut für Zukunftsstudien und Technologiebewer- tung. Akutell erforscht er den Zusammenhang von Digitalisierung und Nachhaltigkeit. FOTOS: AMIN AKHTAR 30 IHK BERLIN  |  BERLINER WIRTSCHAFT 01 | 2020 SCHWERPUNKT | Interview

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