Berliner Wirtschaft 1/2020

zehn Milliarden Menschen an, mit der Folge einer weiteren Verdichtung in Städten. Die Menge in der Enge wird zum zivilisatorischen Normalzu- stand. Mobilität, Bauen, Energieerzeugung, Freizeit – alles muss unter der Bedingung der zunehmen- den Knappheit organisiert werden. Wenn wir der Welt zeigen wollen, wie das geht, müssen wir das in Berlin tun. Warum? Berlin hat als Hauptstadt eine Schaufensterfunk- tion. Wenn wir hier Lösungen für eine nachhal- tige Mobilität und Energieversorgung präsentieren, wird das wahrgenommen. Und als exportorientiertes Land müssen wir Lösungen für unsere wichtigsten Absatzmärkte entwickeln – also zumBeispiel Asien. Dort werden die Verbraucher immer mehr Konsum- entscheidungen unter der Rahmenbedingung ext- remer Verdichtung treffen. Produkte, die wir dort absetzenwollen, müssen also dichtekompatibel sein. An welche Produkte denken Sie? Es werden jedenfalls auf Dauer keine großen Autos mit Verbrennungsmotor für den Privatbesitz sein, sondern intelligente, nutzungseffiziente, digital opti- mierte Mobilitätssysteme. Wenn wir solche Lösun- gen in Asien verkaufen wollen, müssen wir sie hier ausprobieren. Wir müssen hier auf die anwachsen- den Mobilitätsströme reagieren und Anforderungen der Nachhaltigkeitstransformation berücksichtigen. Wie können diese Mobilitätssysteme Ihrer Ansicht nach aussehen? Wir müssen digitale Effizienz in die Mobilitätssys- teme bringen. Das Rückgrat ist der öffentliche Ver- kehr, dessen Qualität wir erhöhenmüssen und ohne den eine nachhaltige urbane Mobilität nicht funkti- onieren kann. ZumBeispiel können wir durch digi- tale Technologien höhere Taktzeiten und eine bes- sere Auslastung der Infrastruktur realisieren. Der nächste Schritt ist, den öffentlichen Verkehr über digitale Schnittstellenmit Angeboten für die Mikro- mobilität zu verbinden. Das können Fahrräder, Elek- troroller oder auch Autos sein – aber nicht im Pri- vatbesitz, sondern als Mobility as a Service. Wir brauchen also mehr Sharing-Modelle. Sharing ist zu wenig, wir müssen auch Poolen, also die Besetzungsrate in den Fahrzeugen erhöhen. Wir brauchenmehr Ridepooling-Shuttles –wie den Berl- könig –, die sieben oder acht Menschen der Reihe nach am Stadtrand einsammeln und zur S-Bahn- Station fahren. Das kann sehr effizient sein, wenn wir die Schnittstellen digitalisieren. Über eine Appli- kation auf dem Smartphone muss die ganze inter- modale Verkehrskette automatisch geplant werden. Verbraucher folgen nur noch den Ansagen. Techno- logisch ist das alles machbar. Warum funktioniert es dann noch nicht? Es muss politisch gewollt und reguliert werden. Also ist die Politik der Engpass. Ich möchte nicht von Engpässen sprechen, sondern von Modernisierungsvorbehalten. Die Politik ist überfordert. Aber sie hat mein größtes Mitgefühl, weil sie hochkomplexe neue Dinge verstehen, bewerten und darüber entscheiden muss. Das Wissen, das in der Politikberatung dafür gebraucht wird, entsteht erst. Wir machen uns jetzt erst vertraut mit neuen digitalen Diensten, mit neuen Technologien und ihren Risiken. Politik muss jetzt zwar sehr schnell handeln, aber sie hat weder die Ressourcen noch die Wissenspotenziale dafür. Kein Wunder, wenn es große Unsicherheiten gibt. Sind die Probleme anderswo als in der Politik zu lösen? Nein, in allen Teilen der Gesellschaft besteht Unsi- cherheit und Unwissenheit, weil derzeit so viel Neues passiert, das schwer einzuschätzen ist – neue digi- tale Technologien, Erderwärmung, geopolitische 300 Millionen Chinesen werden in den nächsten zehn Jahren vom Land in Ballungs- räume ziehen. Beim IZT sind Auftraggeber willkommen. Unter anderem wird eine leistungsfähige Früherkennung von Chancen und Risiken geboten » FOTOS: AMIN AKHTAR In allen Teilen der Gesellschaft besteht Unsicherheit, weil derzeit so viel Neues passiert. Stephan Rammler SCHWERPUNKT | Interview 28 IHK BERLIN  |  BERLINER WIRTSCHAFT 01 | 2020

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